Pflegende Angehörige brauchen mehr Unterstützung. Sie steht am Rande ihrer Kräfte: Viele der 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen sind einer Untersuchung zufolge überfordert, gestresst oder selbst krank.
Viele pflegende Angehörige stehen durch die hohe Belastung vor der Aufgabe
Rund 2,5 Millionen Menschen kümmern sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Dagegen stieg die Zahl der Menschen, die in einem Pflegeheim leben, seit 2010 nur um 69.000 auf 780.000. Sie sind für die Pflegekassen besonders teuer. „Allerhöchste Zeit, eine Lanze für die pflegenden Angehörigen zu brechen“, sagt Christoph Straub, Vorstandschef der Barmer. Die meisten pflegenden Angehörigen, rund 1,65 Millionen von ihnen, sind Frauen. Nur ein Drittel aller Betroffenen geht der Studie zufolge arbeiten, jeder Vierte aber hat seine Arbeit aufgrund der Pflege reduziert oder ganz aufgeben müssen. Die Pflege bestimmt bei 85 Prozent der Betroffenen täglich das Leben. Die Hälfte von ihnen kümmert sich sogar mehr als zwölf Stunden täglich um pflegebedürftige Angehörige. Dazu gehören unter anderem Medikamentenversorgung, Unterstützung beim Essen, bei der Mobilität oder beim Toilettengang. Dem Pflegesystem droht durch die zunehmende Überschreitung der Belastungsgrenze ein Grundpfeiler wegzubrechen. Hochgerechnet mindestens 185.000 der insgesamt 2,5 Millionen Menschen in Deutschland, die ihre Eltern oder ihre Partner zu Hause pflegen, stehen kurz davor aufzugeben oder ihre Dienste einzuschränken, wenn sie nicht mehr Hilfe bekommen. Das geht aus dem aktuellen „Barmer-Pflegereport 2018“ hervor.
Pflege macht krank
Die Umfrage der Universität Bremen unter 1900 pflegenden Angehörigen hat zudem ergeben, dass das größte Risiko der häuslichen Pflege nicht nur in der körperlichen Belastung liegt. Gerade an den Seelischen Belastungen drohen pflegende Angehörige auszubrennen. „Es gibt ein starkes Indiz dafür, dass Pflege krank macht“, sagte Studienleiter Professor Heinz Rothgang bei der Vorstellung des Reports in Berlin. So hat ein Längsschnittvergleich von pflegenden und nicht pflegenden Personen erbracht, dass sich bei Pflegenden der Gesundheitszustand zwischen 2012 und 2017 deutlich ausgeprägter verschlechtert hat. Dies habe sich vor allem in den Zahlen bei psychischen Störungen, Belastungsstörungen sowie bei Depressionen gezeigt, berichtete Rothgang.
Der Pflege Effekt bei außergewöhnliche Belastung durch die Pflege der Eltern
Auch Rückenbeschwerden und Schmerzen sind demnach unter Pflegenden deutlich stärker verbreitet als unter Nicht-Pflegenden. Der „Pflege-Effekt“ hat, nachweislich der Barmer-Daten, im Jahr 2017 dafür gesorgt, dass sechs Prozent mehr Diagnosen zu psychischen Störungen auf Pflegepersonen fielen als auf Nicht-Pflegepersonen. Das gilt zum Beispiel auch für Schmerzen (plus 3,8 Prozent) und Rückenbeschwerden (plus 3,6 Prozent). Besorgniserregend ist gerade deshalb auch, dass knapp jeder siebte Pflegende angibt, Arztbesuche regelmäßig aufzuschieben oder ganz zu unterlassen.
185.000 pflegende Angehörige wollen durch die hohen Belastungen aufgeben
85 Prozent sehen ihr Leben tagtäglich von der Pflege bestimmt, 30 Prozent fühlen sich in der Pflegesituation sogar gefangen. Ein Fünftel sieht negative Auswirkungen auf Freundschaftsverhältnisse (22,7 Prozent). Genauso viele geben an, die Pflege sei zu anstrengend und dass sie Zukunfts- und Existenzängste haben. 15 Prozent werden von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie glauben, nicht genug für ihre Angehörigen zu tun. 14 Prozent berichten von Scham- und Ekelgefühlen beim Umgang mit den hilfsbedürftigen Angehörigen. 185.000 geben an, sie stünden kurz davor, die Pflege einzustellen, weil sie als pflegende Angehörige die Belastung nicht mehr aushalten. 6,6 Prozent sagen, sie würden nur weitermachen, wenn sie mehr Hilfe bekommen. Weniger als ein Prozent will auf jeden Fall aufhören. Die Zahl der potenziellen Pflege-Aussteiger könnte sogar deutlich höher liegen. Grund: Knapp zwölf Prozent der Befragten verweigerte eine Angabe zur Entwicklung ihrer zukünftigen Pflegebereitschaft.
Zu hoher Aufwand für Unterstützungsleistungen
https://www.youtube.com/watch?v=Vh35ijSM2MQ 60 Prozent von ihnen wünschen sich dringend mehr Hilfe – allerdings findet mehr als die Hälfte der pflegenden Angehörigen niemanden, um sich für längere Zeit vertreten zu lassen. Überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass Angebote wie Kurzzeit- und Tagespflege sowie Haushaltshilfen von einem Drittel der Betroffenen, 820.000, nicht in Anspruch genommen werden, um ihre Belastbarkeitsgrenze zu mildern. Als Begründung wird vielfach angegeben, dass die Qualität der professionellen Pflegeangebote zu schlecht sei. Oder die Leistung wird gar nicht oder nicht zu den richtigen Zeiten angeboten. Ein Beispiel: Nur 5,3 Prozent derer, die die Tagespflege genutzt haben, waren mit der Betreuung zufrieden. Pflegenden Angehörige sehen in den heutigen Entlastungsangeboten entweder “keinen Bedarf” oder “die Leistung ist unbekannt”. Häufig werden aber auch andere Gründe genannt wie “geringe Qualität”, “zu teuer”, “zu viel Organisation” oder es “passt zeitlich nicht”.
Zukunftswünsche der pflegenden Angehörigen
Für die Zukunft wünschen sich die Hauptpflegepersonen vor allem weniger Bürokratie bei der Antragstellung (59,0 %), bei Fragen immer dieselbe Fachkraft kontaktieren zu können (56,2 %), bessere Aufklärung über die Leistungen der Pflegeversicherung (48,8 %) und mehr Informationen darüber, woher man Hilfe bekommen kann (41,3 %). Sollten diese vier Punkte verbessert werden, könnte man den Abgang der pflegenden Angehörigen, die zu hohen Belastungen ausgesetzt sind, verringern – vielleicht würde man sogar weiterhin auf diese wichtige Hilfe innerhalb der Familie bauen können.
Mehr Entlastung für pflegende Angehörige gefordert
Barmer-Chef Christoph Straub nannte die Ergebnisse “besorgniserregend”. Das System sei auf die aufopferungsvolle Arbeit pflegender Angehöriger “schlicht und ergreifend angewiesen”. „Wir können es uns nicht leisten, auf die die aufopferungsvolle Arbeit pflegender Angehörigen zu verzichten, weil sie an ihre Grenze kommen, sich alleine gelassen fühlen, weil sie körperlich und psychisch völlig erschöpft sind“, kommentierte Barmer-Chef Professor Christoph Straub die Ergebnisse. Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte eine “echte Entlastung” für pflegende Angehörige. “Der größte Pflegedienst Deutschlands geht am Stock”, sagte Vorstand Eugen Brysch. Die bisherigen Angebote seien bei Weitem nicht ausreichend und liefen oft ins Leere. Besonders treffe es die Hunderttausenden pflegenden Angehörigen, die berufstätig sind. Brysch forderte eine staatlich finanzierte Lohnersatzleistung für Pflegende ähnlich dem Elterngeld. Der Sozialverband VdK dringt ebenfalls auf mehr Entlastung für Angehörige. Allerdings gebe es in vielen Regionen bereits ein Versorgungsproblem etwa bei der Kurzzeitpflege oder selbst bei der ambulanten Pflege, warnte VdK-Präsidentin Verena Bentele.