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Nähe und Distanz in der Pflege – Herausforderung und Chance

Ein Sohn umarmt seinen Vater im Park.

Gegenwärtig leben in Deutschland rund ein Viertel der erwachsenen Kinder mehr als 100 Kilometer entfernt von den Eltern. Dann können sie nur aus der Ferne ihre pflegebedürftigen Eltern unterstützen. Diese Nähe und Distanz in der Pflege ist für alle eine Herausforderung, aber auch Chance. Ein gutes Netzwerk vor Ort kann helfen. Dazu hilfreiche Tipps.

Nähe und Distanz in der Pflege sind der Mobilität und der Globalisierung geschuldet

Heutzutage ist es für viele normal, wenn der Besuch bei und von (Groß-)Eltern nur monatlich oder in den Ferien möglich ist. Nicht selten leben Familienmitglieder in einer anderen Stadt oder sogar in einem anderen Land. Lebensmittelpunkte verschieben sich. Dies geht einher mit der erhöhten Mobilität in einer globalisierten Welt. Was, wenn nun die betagten Angehörigen nicht mehr selbstständig leben können, das eingeübte Räderwerk von gegenseitigen Besuchen ins Stocken kommt? Oft können oder wollen Angehörige berufs- oder familienbedingt nicht zurück in die Nähe der Betreuungsbedürftigen ziehen, um die Pflege zu übernehmen.

Nähe und Distanz in der Pflege bereitet viel Sorge

Angesichts der steigenden Mobilität im Privat- und im Arbeitsleben wird es immer weniger selbstverständlich, dass pflegende Angehörige vor Ort leben und sich hauptverantwortlich um ältere hilfebedürftige Personen kümmern können. So wie Alexander König und Carmen Bonfiglio (beide Namen von der Redaktion geändert) Alexander König sitzt sozusagen auf heiße Kohlen. Er hört im 10-Uhr-Meeting nur mit halbem Ohr zu, checkt sein Handy alle paar Minuten und geht mittags nicht in die Kantine, weil dort der Empfang so schlecht ist. Gegen 17 Uhr endlich ruft der Hausarzt zurück. Und verspricht, noch am gleichen Abend bei Königs Mutter Margarethe vorbeizufahren. „Am liebsten hätte ich sie selbst einfach ins Auto gepackt und zum Arzt gebracht“, erinnert sich König. Doch genau das ist das Problem: Der 48-Jährige wohnt in Freiburg, hat hier einen guten Job und seine Kinder gehen in Freiburg zur Schule. Seine Mutter hingegen wohnt in Bremen. Als sie ihm fast widerwillig von dem „kleinen Sturz“ und „nur einer Prellung irgendwie an der linken Seite“ berichtet, sind dem IT-Spezialisten die Hände gebunden. „Sie hat sich geweigert, mit dem Taxi zum Arzt zu fahren, das sei nichts weiter“, erzählt König, „also habe ich von hier aus versucht, mich so gut es geht zu kümmern.“ Er hat den Arzt vorbeigeschickt und eine Nachbarin, die nach der 79-Jährigen geschaut hat, eine Freundin hat zudem versprochen, in den folgenden Tagen die Einkäufe zu erledigen. „Das große Glück“, sagt Alexander König, „ist das gute Netz, das meine Mutter und ich vor Ort haben, ohne das würde es nicht funktionieren.“ Seit fünf Jahren orchestriert Alexander König, Einzelkind, zunehmend das Leben seiner Mutter aus der Ferne. Margarethe König ist nicht pflegebedürftig, aber ganz ohne Unterstützung kann sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen. Nach einem hartnäckigen Infekt war sie lange schwach, ihr Sohn organisierte gegen ihren Protest für drei Wochen Essen auf Rädern, das sie dann doch dankbar annahm. Sie muss an wichtige Termine erinnert werden und kann den Antrag für einen Treppenlift nicht alleine ausfüllen. Es gibt Phasen, in denen ihr Sohn ein ungutes Gefühl hat, dann klingelt die Nachbarin öfter.

So müssen auch andere mit Nähe und Distanz in der Pflege klarkommen

Eine pflegende Angehörige sitzt gestresst auf ihrem Sofa.
Pflege auf Distanz kann an einigen Tagen sehr stressig werden. Besonders dann, wenn der Angehörige um Hilfe ruft.

Der Anruf kann immer kommen. „Wenn ich in der Konferenz sitze, beim Mittagessen, beim Abholen meiner Tochter aus der Kita, auf dem Spielplatz. Ich sehe die Kölner Vorwahl und weiß, da muss ich drangehen. Das ist dringend.“ Ja, bitte? „Guten Tag, Frau Bonfiglio? Wir haben hier Ihre Mutter.“ Meine Eltern brauchen Hilfe. Beide. Extrem viel Hilfe. Mehr, als ich ihnen mit Job und Familie und anderen Interessen geben kann und will. Noch dazu, weil ich knapp sechshundert Kilometer von ihnen entfernt wohne. Genau wie meine Geschwister. Deswegen müssen wir ihr Leben fernsteuern. Nicht nur die ständig anfallenden Arztbesuche, die medizinischen Notfälle, wenn einer fällt oder Fieber hat, nein, auch die Steuererklärung und neue Socken kaufen und die Post beantworten und die zahlreichen Rechnungen überweisen und die Mahnungen, weil doch immer Rechnungen verloren gehen, und dafür sorgen, dass Wasser im Haus ist und mehr als alles andere jemand, der sich um sie kümmert. Und wenn man dann denkt, dass man alles erledigt hat, dann ruft der Nachbar an. „Bei deinen Eltern ist gerade ein Ziegel vom Dach gefallen.“ Gruppenchat mit den Schwestern: „Wie heißt nochmal der, der letztes Jahr das Dach bei Mama und Papa gemacht hat?“

In Nordamerika ist das Phänomen von Distanz in der Pflege schon länger bekannt

Alexander König und Carmen Bonfiglio gehören zu einer stetig größer werdenden Zahl von Menschen in Deutschland, die sich aus räumlicher Distanz um die Pflege ihre Eltern kümmern. Ein Phänomen, das in den USA und Kanada, Ländern mit großen Entfernungen, schon länger bekannt ist, daher stammt auch der Begriff „Distance Caregiving“, also Pflege oder Fürsorge über Distanz. Kliniken, Pflegeheime und Arztpraxen veröffentlichen dort eigene Ratgeber und Handzettel für „Distance Caregivers“, wissenschaftliche Studien haben sich mit dem Thema beschäftigt. In Deutschland beginnt man gerade damit. Pflegende Angehörige, also die, die ihre Eltern zu Hause pflegen, leisten Unglaubliches und bekommen dafür viel zu wenig Unterstützung. Noch weniger sprechen wir über ein Modell, das im Vergleich einfacher ist, aber dennoch eine große Belastung: die Pflege auf räumliche Distanz.

Vor zwei Jahren war Pflege auf Distanz noch undenkbar

„Noch vor zwei Jahren hätte ich mir gar nicht vorstellen können, dass das gehen würde.“, erklärt Carmen Bonfiglio. „Aus der Entfernung heraus, sich doch irgendwie noch kümmern zu können.“ Und so richtig geht es auch nicht, weil alles ständig improvisiert ist. Mit Vollmachten, die oft nicht ausreichen und Nachsendeaufträgen, die die Post immer wieder vergisst, und einem sehr kleinen Netzwerk von großartigen Menschen, die für uns da sind. Ich fahre oft zu meinen Eltern. In den schlimmsten Zeiten einmal pro Woche, sonst einmal im Monat. Ich bin gerne bei ihnen. Und es gibt immer etwas zu erledigen. Warum ich das mache, verstehen die wenigsten.

Eine Anleitung für Pflege auf Distanz gibt es nicht

Eine Tochter kniet neben ihrer Mutter, die im Rollstuhl sitzt.
Eine Anleitung für die Pflege auf Distanz gibt es noch nicht. Man muss sich selber organisieren.

„Eine Anleitung für unser Lebensmodell, für diese Fernsteuerung, gibt es nicht. Keine Organisation, keine offizielle Stelle.“, erklärt Alexander. Am Anfang habe ich mich durch die Kirchengemeinden, die Caritas-Stellen und Pflegeberatungen durchtelefoniert. Wie organisiert man das Leben eines anderen Menschen? Wo findet man jemanden, der mal vorliest, einen Hausarzt, der Hausbesuche macht, eine Pflegerin? Wie finanziere ich einen Treppenlift? Wie bereitet man sich auf die ständigen Veränderungen vor? Schnell habe ich verstanden, dass es im Grunde niemanden gibt, der einem das abnehmen kann. Man bräuchte so etwas wie einen professionellen Kümmerer für die Angehörigen. „Wir wurschteln uns so durch, manchmal in ruhigem Fahrwasser, meist am Rande der Verzweiflung. Immer wieder mal nennt jemand eine Anlaufstelle, eine Pflegeberatung, einen Service. Immer wieder schöpfe ich Hoffnung und rufe an. Aber es ist meist sinnlos. Wir brauchen keine Beratung, wo man barrierefreie Badewannen kauft. Wir brauchen jemanden, der uns in all den Tausenden von Unterlagen und Anträgen den Weg weist. Der den Arzt dazu bringt, zurückzurufen.“, erzählt Carmen

Tipps für die Pflege auf Distanz

  1. Erstellen Sie am Anfang einen Plan und notieren Sie, was Ihre Eltern alles benötigen. Was Sie alles organisieren müssen.
  2. Machen Sie sich Notizen über die gesundheitliche Verfassung Ihres Angehörigen und über alle rechtlichen und finanziellen Aspekte. Lassen Sie sich rechtzeitig von Ihren Eltern Vollmachten erteilen zum Beispiel eine Patientenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht. Damit im Falle der Betreuungsbedürftigkeit ein gerichtliches Eingreifen und eine Betreuung durch einen ,,unbekannten“ Dritten vermieden wird.
  3. Geht es dem Elternteil in der Ferne plötzlich schlecht, ist ein gutes, verlässliches Netzwerk vor Ort sehr wichtig, ansonsten macht man sich viele Sorgen. Binden Sie also Nachbarn, Freunde und Verwandte, die in der Nähe wohnen mit ein.
  4. Notieren Sie sich auch Kontakt-Telefonnummern, Informationen zu Versicherungen, Kontonummern und andere wichtige Details.
  5. Wichtig ist einen Hausarzt zu haben, der auch ab und zu mal Hausbesuche durchführt oder im Bedarfsfall nach Ihren Eltern schaut. Sprechen Sie mit ihm darüber und teilen Sie auch Ihre Sorgen mit.
  6. Versuchen Sie, sich über lokale Angebote und Möglichkeiten zu informieren. Ein Pflegedienst und eine Alltagsassistentin, die sich um die pflegebedürftigen Eltern kümmern und ihnen im Alltag etwas Abwechslung gibt.
  7. Wenn die Eltern nicht mehr kochen können oder wollen, sollte man nicht scheuen „Essen auf Rädern“ für die Eltern zu bestellen. Oder die Nachbarn animieren, vielleicht ein bisschen mehr zu kochen.
  8. Für die Einkäufe existieren mittlerweile viele Lieferdienste, die Getränke oder Lebensmittel, nach Hause liefern. Gerade in Zeiten von Corona ist auch viel Nachbarschaftshilfe zu sehen, die solche Hilfe organisieren.
  9. Organisieren Sie regelmäßige Besuche von Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern. Dadurch verhindern Sie, dass Ihr Elternteil vereinsamt. Darüber hinaus könnten diese Sie auf dem Laufenden halten, wie es Ihrem Angehörigen geht.
  10. Ein Hausnotruf sollte Pflicht sein, wenn Sie Pflege auf Distanz durchführen. Durch einen Hausnotruf können die Eltern in einem Notfall selbständig Hilfe rufen, welche auch schnell vor Ort ist.
  11. Es ist natürlich von Vorteil, wenn Sie die Ihnen nahestehende Person so oft wie möglich selber besuchen. Dann können Sie sich selbst ein Bild von ihren körperlichen, emotionalen und finanziellen Bedürfnissen machen. Wenn Sie keine Möglichkeit für einen persönlichen Besuch haben, können Telefon, Handy und Internet helfen, den Kontakt zu halten.
  12. Skype, WhatsApp, Facebook Messenger und Apple FaceTime helfen, sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch in Deutschland unterstützen viele die Eltern aus großer Distanz

„Es handelt sich um eine Personengruppe, die nicht unsichtbar bleiben sollte“, sagt Annette Franke von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Die Professorin für Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Pflege- und Hilfepotenzialen über Distanzen und Grenzen hinweg. Genaue Zahlen über Distance Caregivers in Deutschland fehlen bislang, „Doch in Deutschland können wir davon ausgehen, dass ungefähr 25 Prozent über eine weitere Distanz regelmäßig Angehörige unterstützen“, sagt Franke.

Distance Caregivers werden gesellschaftlich kaum wahrgenommen

Allerdings, das haben sie und ihr Team in Interviews festgestellt, sehen sich viele gar nicht als pflegende Angehörige. Mit dem Begriff der Pflege verbinden die meisten Aufgaben wie Kochen, Hilfe im Haushalt und bei der Körperpflege. Wer per Mail und Telefon Hilfe organisiert, Termine managt, Dokumente an Ämter schickt und mit Anrufen auch emotionale Unterstützung sichert, bucht das selbst nicht als Pflege ab. Ein Problem, das sich Franke zufolge auch darin zeigt, wie Distance Caregivers gesellschaftlich wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Das müssen auch Bonfiglio und König immer wieder feststellen, doch sie verteidigen Ihre Art der Pflege aus der Distanz. Wer sich auf Distanz um jemanden kümmert, stößt damit kaum auf Verständnis. Viele fragen sich, warum man das überhaupt macht, das sind noch die Netteren. Die meisten finden, dass es unnötiger Stress ist. Es gebe doch heute so tolle Seniorenheime. „Ich finde das nicht. Unser Modell ist eine Katastrophe, und doch ist es mir unendlich lieber, weil ich so viel mehr Zeit mit meinen Eltern verbringen kann und weiß, das sie dort leben, wo sie sich wohlfühlen.“, erzählt Carmen. In einem Heim wären wir alle fremd, ich käme immer nur zu Besuch, müsste mich orientieren an dem Studenplan, dem dort alles unterworfen ist. „Mit der Pflege auf räumliche Distanz kann ich zumindest soweit selbst für meine Eltern sorgen, dass ich regeln kann, wer sie täglich umsorgt und wie“, erklärt König.

Experten gehen davon aus, dass es immer mehr Distance Caregivers geben wird

Experten gehen davon aus, dass es immer mehr Distance Caregivers geben wird. Und: Sie werden jünger. „Derzeit sind die Distance Caregivers im Schnitt Mitte 50, doch dadurch, dass die Familienplanung immer weiter nach hinten verschoben worden ist, wird sich das verlagern auf Mitte 40“, prophezeit Annette Franke. Das mache zwingend notwendig, dass das Thema mehr in den Fokus genommen werden müsse. „Wir sind zwar damit überall offene Türen eingerannt, egal ob bei Betrieben, Angehörigen oder dem Familienministerium, die Resonanz war überall hoch“ – doch aktuell fehlen eben noch Konzepte, wie man betroffene Angehörige beraten und unterstützen kann.

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